Deiner Angst begegnen – Wie du Angst wirklich verstehen und lösen kannst.
In unserer Gesellschaft wird Angst oft als Schwäche betrachtet und reflexartig verdrängt. Doch echte innere Stärke entsteht, wenn wir lernen, unserer Angst Raum zu geben und sie als wertvollen Hinweisgeber zu erkennen. In meinem Ansatz geht es darum, mit der Angst in Beziehung zu treten, ihre Ursachen zu hinterfragen und sie auf körperlicher Ebene bewusst wahrzunehmen. So entsteht Klarheit, Selbstvertrauen und ein tieferes Verständnis für die eigenen inneren Prozesse.
Kontrolle und Sicherheit hinterfragen
Ein zentraler Schritt im Umgang mit Angst ist, unseren Wunsch nach Kontrolle und Sicherheit grundsätzlich zu hinterfragen. Dieser Wunsch ist tief in uns verankert – oft unbewusst. Doch gerade dieser Drang nach Kontrolle kann uns daran hindern, mit unserer Angst in einen echten Kontakt zu treten.
Unsere Haltung zur Angst
Die meisten Menschen bewerten Angst automatisch als etwas Negatives. Gedanken, Gefühle und körperliche Reaktionen, die mit Angst verbunden sind, werden als unangenehm und bedrohlich wahrgenommen. Deshalb neigen wir dazu, der Angst sofort auszuweichen – sie zu verdrängen oder zu bekämpfen.
Der fehlende innere Raum
Was dabei passiert: Wir erlauben unserer Angst nie wirklich, präsent zu sein. Sie bekommt keinen inneren Raum, den sie eigentlich bräuchte, um sich entfalten zu können. Und genau dadurch bleibt ihre wahre Gestalt verborgen.
Ein Bild zur Veranschaulichung
Stell dir vor, du hast einen Luftballon mit einer unbekannten Form – vielleicht ein Tier. Du kannst diese Form aber nur erkennen, wenn der Ballon vollständig aufgeblasen ist. Nun legst du ihn in eine kleine Glaskiste und beginnst, ihn darin aufzupusten. Schnell stößt er an die Begrenzungen und kann sich nicht richtig entfalten.
Übertragen auf unsere Angst: Der Ballon steht für die Angst, die Glaskiste für unseren inneren Widerstand. Wenn wir Angst empfinden und sofort in den Widerstand gehen, geben wir ihr keinen Raum. Dadurch bleibt uns verborgen, was sie uns eigentlich zeigen will.
Angst als Botschafter
Wenn wir der Angst Raum geben, kann sie ihre Gestalt annehmen. Und dann erkennen wir: Angst kann ein innerer Botschafter sein. Vielleicht ein Wächter, der uns schützen will. Vielleicht ein verletzter Anteil in uns. Oder ein Hinweis darauf, dass wir gerade eine Grenze überschreiten, die uns nicht guttut.
Diese Hinweise können wir aber nur wahrnehmen, wenn wir wirklich mit unserer Angst in Kontakt treten. Wenn wir ihr zuhören. Wenn wir ihr Raum geben, in dem echtes Verstehen möglich wird.
Vorurteile und Reaktionsmuster
Sobald Angst auftaucht, reagieren wir mit vorgefertigten Bildern, Erwartungen und Vorurteilen. Wir begegnen nicht der echten Angst, sondern nur unseren Vorstellungen davon. Dadurch bleibt uns das wahre Gefühl der Angst verborgen.
Wenn unsere Angst eine konkrete Gestalt annehmen darf, verändert sich etwas Grundlegendes. Sie wird zu einem Gegenüber – und mit diesem Gegenüber können wir in Beziehung treten.
Persönliches Beispiel: Das Bild „Ich muss stark sein“
Ich habe mit fünf Jahren angefangen, Kampfsport zu machen. In dieser Welt wurde mir früh vermittelt: Stärke zeigen, keine Schwäche zeigen. Bei einem Turnier mit sieben Jahren habe ich alle Kämpfe verloren und musste weinen. Mein Trainer sagte: „Wenn du jetzt hier weinst, zeigst du deinen Gegnern Schwäche.“
Ich wollte meinem Vorbild gefallen, wollte Anerkennung. Und so habe ich früh verinnerlicht: Wenn ich stark und diszipliniert wirke, bekomme ich Bestätigung. Dieses Bild habe ich auf mein ganzes Leben übertragen.
Problematisch wurde es, wenn dieses Bild ins Wanken geriet. Dann spürte ich Unsicherheit und Angst – und habe sie sofort weggedrückt. Ich habe ihr nie erlaubt, groß zu werden. Erst viel später habe ich erkannt, dass diese Angst direkt mit dem Bild „Ich muss stark sein“ verknüpft ist.
Ist es überhaupt mein eigenes Bild?
Spannend wird es, wenn man sich fragt: Ist das überhaupt mein eigenes Bild, vor dem ich da Angst habe? In meinem Fall war es ein Bild, das ich übernommen habe – von meinem Umfeld, von gesellschaftlichen Normen. Und das ist bei vielen Menschen so.
Viele Ängste sind gar nicht die eigenen, sondern übernommen – von Eltern, von der Gesellschaft, von alten Glaubenssätzen. Deshalb lohnt es sich, die eigenen Ängste zu hinterfragen: Woher kommen sie wirklich?
Zwei weitere zentrale Aspekte
Neben dem Kontakt zur Angst gibt es zwei weitere wichtige Punkte:
- Vermeidung verstärkt Angst: Wenn wir Angst vermeiden, verstärken wir sie. Druck erzeugt Gegendruck. Je mehr wir gegen die Angst ankämpfen, desto stärker wird sie.
- Angst will nicht bekämpft werden: Sie will gesehen und gehört werden. Angst ist nicht gegen uns – sie ist für uns. Sie liefert Hinweise, die wir nur erkennen können, wenn wir ihr zuhören.
Ein praktischer Tipp für den Umgang mit Angst
Wenn du das nächste Mal Angst empfindest, versuche, mit dem Gefühl auf körperlicher Ebene in Kontakt zu kommen. Spüre die Enge im Brustbereich, den Kloß im Hals, den schnelleren Herzschlag. Und dann: Nimm den Widerstand raus. Lass das Gefühl neutral zu. Lass es größer werden.
Oft denken wir, wenn die Angst zu groß wird, überfordert sie uns. Aber genau hier kannst du eine neue Erfahrung machen: Lass sie kommen. Lass sie Raum einnehmen. Schritt für Schritt kannst du lernen, diesen Raum zu vergrößern und eine Beziehung zu deiner Angst aufzubauen.
Die Rolle des Denkens
In diesem Prozess wird sich dein Denken einmischen. Es wird dir sagen: „Du musst etwas gegen dieses unangenehme Gefühl tun.“ Denn dein Denken will Kontrolle. Aber genau hier zeigt sich: Was die Angst auslöst, beginnt auf gedanklicher Ebene.
Angst und die Zukunft
Unsere Ängste richten sich fast immer auf die Zukunft. Wenn wir Angst empfinden, denkt unser Verstand voraus: „Gleich wird mich das überfordern.“ Doch wenn du dich über den Körper verankerst, bleibst du im Moment. Der Körper ist immer hier und jetzt.
Wenn du deine Aufmerksamkeit in den Körper lenkst und mit deinem Angstgefühl in Kontakt gehst, bist du präsent. Du lässt die Angst präsent sein. Und du selbst bist aufmerksam und verbunden mit deinem Gefühl.
Fazit: Lass den Ballon groß werden
Erlaube dir, dass deine Angst ihre Gestalt annehmen darf. Denk an den Luftballon: Lass ihn groß werden. Gib dir den Raum, deine Angst von allen Seiten zu betrachten. So kannst du die Zusammenhänge erkennen, Bilder dazu bekommen – und deine eigenen Vorstellungen loslassen. Du kommst in Kontakt mit deiner echten Angst.